Der hundertste Geburtstag von Wladimir Korolenko, 2021

Wladimir Korolenko und die Oktoberrevolution in Russland

Der andere Blick des Zeitzeugen Wladimir Korolenko – übersetzt von Rosa Luxemburg. Zum 100. Todestag des Menschenrechtlers.


Rosa Luxemburg bearbeitete im Breslauer Gefängnis während ihrer Haftstrafe das Werk des russischen Schriftstellers und Humanisten Wladimir G. Korolenko, dessen Erzählungen sie ins Deutsche übersetzte. Neben einer sehr detaillierten Übersicht über die moderne russische Literatur bringt sie besonders die Autobiografie von Korolenko, ‹Die Geschichte meines Zeitgenossen›, in deutscher Übersetzung heraus, sowie sechs Briefe von Korolenko an Lunatscharski. Korolenko war ein scharfer Kritiker der Methoden der Bolschewisten zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft und wurde in der Stalinzeit offiziell totgeschwiegen. Obwohl kein Feind eines revolutionären Umsturzes, verurteilte er offiziell die Politik der Sowjetmacht. Im Zarenreich war er wiederholt in Ungnade gefallen; schon als Student wurde er verurteilt und später nach Sibirien verbannt.

Korolenko starb 1921, hochgeehrt vom gemeinen Volk. Noch im Jahre 1920 kam er mit dem Volkskommissar für Unterrichtswesen und Volksaufklärung Anatoli Lunatscharski in einen Briefaustausch, der aber nicht erscheinen sollte. Lunatscharski hatte in Aussicht gestellt, dass er die kritischen Briefe von Korolenko gegen die Regierung beantworten würde, um beides später zu veröffentlichen. Dazu ist es nicht gekommen. 1920 war es schon nicht mehr möglich, eine eigene Meinung kundzutun. Aufgrund seiner moralischen Stellung im Volk und dem Wohlwollen des Volkskommissars genoss Korolenko eine Sonderstellung. Die Briefe kamen 1922 in Paris und in der Sowjetunion erst kurz vor deren Niedergang 1988 heraus. Helmut Hauck druckte die Briefe 2013 in dem Büchlein ‹Späte Begegnung› ab. Zur 100. Wiederkehr der Briefe im Jahr 2020 schrieb Hauck eine Würdigung des Verfassers und beschreibt deren Inhalt, indem er mit der nachstehenden Veröffentlichung nachweist, was den gesellschaftlichen Umwälzungen innewohnt. Damit deckt er ein weiteres Mal das Drama auf, das eigentlich ausnahmslos allen Revolutionen und noch mehr den Bürgerkriegen innewohnt.

Lenin wies darauf hin, dass die Oktoberrevolution in ihrer ersten Etappe die friedlichste und unblutigste Revolution gewesen war. Fast ohne Blutvergießen hatte die provisorische Regierung dem in 300 Jahren morsch gewordenen Zarenhof die Macht entrissen, aber für die Sowjetmacht stellte die Marionettenregierung von Kerensky auch kein ernst zu nehmendes Hindernis dar. (Am Ende seines Lebens hatte Kerensky bedauert, dass er sein Vaterland verraten musste. Die Staatsmacht hätte den Ansturm der Bolschewiken verhindern können.)

Bei dieser friedlichen Umwälzung hätte es bleiben können, wäre nicht der Bürgerkrieg ausgebrochen, der maßgeblich von den Interventionen im Norden, Westen, Süden und Osten Russlands provoziert worden war und einen gegenseitigen Terror auslöste. Dagegen musste ein Geist wie Korolenko unweigerlich protestieren.

Uns Heutigen erscheint jener Terror umso tragischer, als er sich nicht als der letzte erwies. Unsere Väter und Großväter glaubten: Nachdem sie die Sowjetmacht mit allen nur erdenklichen Mitteln verteidigt und für immer behauptet hatten, würden sie für immer auf ein Mittel wie den Terror verzichten.

Gegen Todesstrafe

Da Korolenko die Methoden des zaristischen Russlands am eigenen Leib durchmachen musste, war er nicht grundsätzlich gegen einen revolutionären Umschwung, verurteilte aber die Art und Weise der Bolschewisten. Neben dem willkürlichen Umgang mit der Todesstrafe schrieb er an den Volkskommissar: «Sie wissen, dass ich während meiner literarischen Laufbahn nicht ‹nur Rosen gesät› habe. Unter der zaristischen Herrschaft habe ich immer wieder über die Todesstrafe geschrieben und mir sogar das Recht errungen, weit mehr darüber in der Presse verlauten zu lassen, als sonst von der Zensur geduldet wurde. Hin und wieder gelang es mir sogar, ein schon kriegsgerichtlich zum Tode verurteiltes Opfer zu retten, und es gab Fälle, wo nach der aufgeschobenen Exekution Beweise für die Unschuld der Opfer erbracht und diese freigelassen wurden. […] Aber eine Hinrichtung ohne jedes Gericht, eine Hinrichtung im Verwaltungsverfahren – das war selbst in zaristischen Zeiten äußerst selten. Bitter ist der Gedanke, dass selbst Sie, Anatoli Wassiljewitsch, statt dass Sie zur Besonnenheit aufrufen, zu Gerechtigkeit mahnen, zu achtsamem Umgehen mit Menschenleben, die ja jetzt so spottbillig geworden sind, in Ihrer Rede sich mit diesen Erschießungen ‹auf Verordnung› quasi solidarisch erklären.»1

Bild: Wladimir Korolenko vor 1921, Quelle: Wikimedia commons

Korolenko hat sich auch inhaltlich geäußert und bemängelt, dass die Bolschewisten den Fehler machten, unter der Losung ‹das Geraubte rauben› das Ausrauben und Zerstören zu legitimieren. Die Konsequenz: In kürzester Frist fiel der vom Kapitalismus geschaffene Produktionsapparat der Zerstörung anheim.

«Der Kampf gegen das kapitalistische System nahm den Charakter der Belagerung einer feindlichen Festung an. Jede Art Verwüstung, jede Feuersbrunst innerhalb dieser Festung, jede Vernichtung ihrer Reserven wird von den Belagernden als Vorteil gebucht. Und auch Ihr habt jede Zerstörung des kapitalistischen Systems als einen Erfolg gebucht. Dabei vergaßt ihr nur, dass der wahre Sieg der sozialen Revolution, so fern es ihr bestimmt ist, verwirklicht zu werden, darin bestünde, den kapitalistischen Produktionsapparat nicht zu zerstören, sondern ihn in Besitz zu nehmen und auf der neuen Grundlage arbeiten zu lassen.»2

Russland allein

Korolenko wirft die Frage auf, was Russlands Weg von den westeuropäischen Sozialisten trennt und zunehmend von der eigenen Arbeiterschaft. «Die Antwort habe ich bereits gegeben, Euer Maximalismus.» Es ist leicht, jeden als Verräter hinzustellen, der Schwierigkeiten sieht oder vor der Unausführbarkeit der Aufgaben zögert. Auch den Führern selbst ist es nicht möglich, alles auf einmal zu bewältigen, weil sie Schematiker sind, und diesem Maximalismus werde die europäische Arbeiterschaft nicht folgen. So muss Russland diesen Weg allein gehen. Korolenko: «Ihr habt nur gemacht, was am leichtesten ist. Ihr habt den russischen Bourgeois vernichtet, der unorganisiert, unvernünftig und schwach war. Ihr wisst, der europäische Bourgeois ist viel stärker, und das europäische Proletariat ist keine so blinde Herde, dass es sich mit ein paar ersten Aufrufen in den Maximalismus treiben ließe.»3

Die historische Entwicklung Russlands verlief von der blinden Anbetung der Selbstherrschaft und völliger politischer Indifferenz zum abrupten Übergang zu einer kommunistischen Regierung. Allerdings blieben Sitten, Bräuche und Bildung ohne erforderliche Entwicklung. Korolenko: «Von der Diktatur des Adels ging man zur Diktatur des Proletariats über. Ihr, die Partei der Bolschewiki, habt sie ausgerufen und das Volk kam zu Euch und sprach: Jetzt gebt Ihr uns unsere neue Lebensordnung! Doch für diese neue Lebensordnung bedienen sich die Bolschewiki einer fragwürdigen Lüge. Im Absolutismus des Adels hieß es, dass die Hungersnöte in Russland der Faulheit und Trunksucht der Bauernklasse zuzuschreiben seien und nicht den strukturellen Missständen der adligen Gesellschaft. Auch die neue Regierung bedient sich einer fragwürdigen Lüge, indem sie dem Volk suggeriert, die sog. Bourgeoisie sei ausschließlich eine Klasse von Schmarotzern, Halsabschneidern, Dividendenempfängern – weiter nichts.»3

Mit dem sechsten Brief schließt Korolenko seine Gedanken über die Oktoberrevolution. Er ist zutiefst verbunden mit dem einfachen Volk Russlands, mit den Bauern, Tagelöhnern, Minderheiten und Verbannten. Als Literat hat er sie mit Verständnis und Zuneigung beschrieben, als Mensch ist er für ihre Gerechtigkeit eingestanden. Nach der Revolution sah er, dass sein geschundenes Volk unter den neuen Machthabern erneut in Gewalt, Not und Elend gestürzt wurde.

Lenin, zu der Zeit durch seine Krankheit schon gezeichnet, soll auf dem Krankenlager die Briefe Korolenkos gelesen haben. Ob sie zu einer Änderung seiner politischen Haltung beigetragen hätten, ist eher unwahrscheinlich. Der Autor Helmut Hauck meint, dass die letzten Arbeiten Lenins vielleicht Aufschluss geben könnten.

Luxemburg und Korolenko

Hauck hat die Einleitung von Rosa Luxemburg zu Korolenkos Buch ‹Die Geschichte meines Zeitgenossen› aufgenommen, weil er über den umfangreichen, tiefgründigen Vergleich der russischen und der westeuropäischen Literatur mit Bewunderung und Hochachtung erfüllt war. Er fragt, wie es möglich ist, so eine dialektisch ausgewogene, sozial bezogene Charakterisierung der russischen Literatur von ihrer Entstehung bis Gorki vorzulegen. Wie hatte es Rosa Luxemburg fertiggebracht, unter Gefängnisbedingungen eine vergleichende Literaturstudie anzufertigen. Selbst in einer großen Bibliothek ist so etwas schwer zu erarbeiten.

Sie schätzte Korolenko sehr und schrieb die ausführliche Einleitung auch, um anhand seines Wirkens zu zeigen, dass die russische Literatur des 19. Jahrhunderts «aus Opposition zu dem herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde. [..] Das hohe soziale Verantwortlichkeitsgefühl erwies sich bei diesem begnadeten Dichter stärker als die Liebe zur Natur, zum ungebundenen Wanderleben, zum poetischen Schaffen. Von der Woge der nahenden revolutionären Sturmflut mitgerissen, verstummte er als Dichter am Ende der Neunziger Jahre immer mehr, um nur noch als Vorkämpfer der Freiheit seine Klinge blitzen zu lassen.»4

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Fußnoten

  1. Helmut Hauck, Späte Begegnung. Verlag Hauck und Massdorf, Wolgast 2013. Erster Brief vom 19. Juni 1920.
  2. Ebenda. Dritter Brief vom 4. August 1920.
  3. Ebenda. Sechster Brief vom 22. September 1920.
  4. Helmut Hauck, Späte Begegnung. a. a. O. Einleitung von Rosa Luxemburg.

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